Kleine Lügen – große Wirkung (Teil 1)

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Lügen – große Wirkung (Teil 1)

Aus, Schluss und vorbei. Der Schlusspfiff an diesem warmen Sommertag in Warschau besiegelte das Ende der Europameisterschaft für Deutschland. 1:2 gegen Italien, wieder gescheitert, wieder im Halbfinale. Ich gratulierte meinen Gegenspielern zum Finaleinzug und ich hasste sie dafür, dass sie mir wieder einen Traum vom Titel zerstört hatten. Zwei Weltmeisterschaften und zwei Bronzemedaillen hatte ich bereits im Schrank hängen, daneben eine Silbermedaille vom letzten Turnier. Vor 4 Jahren hatte es zwar für das Finale gereicht, doch gegen Spanien gab es dort ebenfalls eine Niederlage. Ich konnte mir die Niederlagen immer noch so erklären, dass wir gegen die beste Mannschaft verloren hatten, doch diesmal fühlte es sich anders an. 100 Mal hätten wir diese Partie heute bestreiten können und 99 Mal wären wir als Sieger vom Platz gegangen. Diese eine einzige Ausnahme erwischten wir heute und ich sank auf dem Feld zusammen.
Als ich in den Nachthimmel über der polnischen Hauptstadt starrte, ließ ich mir die vergangenen Chancen immer wieder durch den Kopf gehen. Mein erstes Turnier, die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Die Euphorie der Menschen trug uns durch das Turnier, angefacht hatte ich diesen Sturm mit meinem Last-Minute-Siegtreffer in Dortmund gegen Polen. Mein erstes Länderspiel, mein erster Treffer und das Sommermärchen war geboren, doch im Halbfinale gab es 2 Minuten vor Schluss den italienischen Stich ins Herz. später das Finale, diesmal gegen Spanien. Unmöglich, sich gegen diese aufsteigende Truppe durchsetzen zu können und ein kleiner Fehler in der Abwehr entschied diese Partie. Vor 2 Jahren schließlich das Turnier, Weltmeisterschaft, Südafrika. Wieder gegen Spanien, wieder ein goldenes Tor und wieder bekamen wir Lob von allen Seiten, doch diesen berüchtigten Pokal konnten wir wieder nicht erringen. Und nun heute das hier. Im Kopf waren wir längst beim Finale gegen Spanien. Wir hätten die doppelte Revanche nehmen können. An Italien für den verpassten Titel im eigenen Land und dann im Finale gegen die Spanier für die letzten beiden Titel.
Was ich jetzt brauchte, war etwas Zeit für mich. Zeit, um über alles nachzudenken und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch sind wir mal ehrlich: Ich bin in der spanischen Hauptstadt unter Vertrag, dem wohl bekanntesten Fussballverein der Welt und seit dieser Saison wurde ich sogar Kapitän. Es erfüllte mich immer wieder mit großer Ehre, mir das legendäre Trikot überzustreifen und ich führte meine Mannschaft mit Stolz auf das Feld. Auch in der Nationalelf gehörte ich zum Führungskreis, acht Jahre war ich schon an Board. Ich gehörte zu den besten Spielern der Welt, wo sollte ich bitte ungehindert den Kopf frei bekommen?
Die Antwort hatte ich nach ein paar Tagen und Gesprächen mit meinen Mitspielern. „Versuch es mal in den Staaten, da ist Basketball oder Baseball ganz weit vorne. Sogar Eishockey ist für die Amis deutlich interessanter wie Fußball. Sie nennen es sogar ‚Soccer‘.“ Keine 2 Tage nach diesem so bitteren Abend saß ich auch schon im Flugzeug nach Los Angeles und seit meiner Ankunft in dieser Stadt erfüllten sich die Empfehlungen sehr schnell. Niemand nahm Notiz von mir, ich würde wohl auch glatt als Einheimischer durchgehen. Ich war mit meinen Gedanken alleine und dachte auch darüber nach, meinen Rücktritt aus der Nationalelf zu verkünden. Vielleicht war es mir einfach nicht vergönnt, einen Titel dort zu gewinnen und wenn ich der Grund war, warum es immer und immer wieder nichts wurde, dann würde ich meinen Platz für den Erfolg räumen. Ich hatte den Bundestrainer bereits über meine Gedankengänge informiert, doch er riet mir, mir die Sache mit meinem Rücktritt noch einmal genaustens zu überlegen. „Stell dir vor, wir holen in Brasilien den Titel ohne dich, dann beißt du dir in den Arsch. Ich brauche dich in meinem Team, ohne dich werden wir nichts gewinnen. Denk in Ruhe darüber nach, aber ich hoffe, dass ich weiter auf dich bauen kann.“
Seine Worte spendeten mir Trost und ich dachte an die Folgen eines Rücktritts. Er hatte Recht, ich wollte unbedingt den Titel holen und den Pokal in meinen Händen halten und nicht anderen dabei zusehen, wie sie Weltmeister wurden. Ich ließ meine Augen über den schier endlosen Pazifik wandern, der sich vor mir ausdehnte und ging weiter ziellos am Strand entlang, bis ich schließlich vor einem Schnellrestaurant stand. Ich hatte am Morgen nicht wirklich etwas Essen können, denn das Gespräch mit dem Bundestrainer ging mir an die Substanz, doch ich konnte inzwischen meinen Magen knurren hören.
Zum Glück war ich inzwischen etwas abseits der bekannten Touristenorte und so hatten sich neben mir auch noch ein älteres Ehepaar in diesem kleinen Diner verloren. Ich gab schließlich meine Bestellung nach den beiden am Tresen auf, bis mich die Dame antippte. „Entschuldigen Sie, junger Mann, aber sind Sie wirklich…“ Sie stockte und sah mich mit großen Augen an. „Mario…?“ fragte ihr Mann und sah mich dabei warmherzig an. Ich setzte ein kurzes Lächeln auf und nickte. „Ja, tatsächlich. Ich hoffe, dass wir dieses Geheimnis für uns behalten können?“ Die beiden nickten und nachdem ich mit den beiden für ein Foto posiert hatte und ein Autogramm auf eine Serviette geschrieben hatte, verabschiedeten sie sich mit den Worten: „Glauben Sie mir, in zwei Jahren holen Sie endlich den Titel, ich weiß es. Mit Ihnen im Team kann nichts schief gehen.“
Nach dieser Begegnung war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich zurücktreten wollte. Sie lösten in mir wieder eine „Jetzt erst Recht“-Stimmung aus, doch der junge Herr am Tresen holte mich in die Realität zurück und so nahm ich mein Sandwich entgegen und suchte mir einen Platz möglichst abseits von der Eingangstür. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich doch nicht der letzte Kunde war, denn neben mir saß eine Frau.
Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, denn sie war das, was man wohl eine Traumfrau nennen könnte. Zumindest, wenn es nach meinem Geschmack ging. Sie hatte schulterlanges, schwarzes Haar, einen unübersehbar üppigen Vorbau, den sie unter einem bauchfreien Top eingepackt hatte. Ein Bauchnabelpiercing über ihren Hotpants machte den Anblick dieses zauberhaften Wesens perfekt. Ich riskierte noch einen zweiten Blick auf sie und war noch beeindruckter als vorher von ihrer Erscheinung. Sie sah von ihrem Tablett hoch und grinste mich breit an und ich lächelte zurück. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, wie schwer es für einen Mann mit meiner Bekanntheit ist, „die Eine“ zu treffen. Hinzu kam, dass ich zwar der lautstarke Anführer auf dem Feld war und regelmäßig ohne Lampenfieber vor 80.000 Menschen spielen konnte, doch eine Frau ansprechen, das war eine noch größere Schwäche als mein linker Fuß.
Doch manchmal gibt es solche Zufälle und sie nahm mir diese unüberwindbare Hürde ab, indem sie mich auf englisch ansprach. „Hallo. Die zwei gerade eben scheinen sie erkannt zu haben. Ich habe mich gefragt, ob es an mir liegt und ich so weltfremd bin, dass ich Sie nicht erkannt habe oder ob das an etwas anderem liegt.“ Sie lehnte sich dabei so weit zu mir herüber, dass ich unweigerlich einen Blick in ihren Ausschnitt auf ihren schwarzen Spitzen-BH ergattern konnte, doch ich ließ mir davon nichts anmerken und antwortete freundlich: „Machen Sie sich da keine Sorgen. Wissen Sie, ich komme aus Deutschland und bin nur zum Urlaub hier, genau wie die beiden eben. Ich bin Schauspieler und spiele in einer Arztserie mit. Nichts besonderes, aber es reicht aus, um von ein paar Leuten erkannt zu werden.“ log ich mir schnell zusammen. Ich wollte dieses bezaubernde Wesen nicht als weltfremd dastehen lassen oder sie auflaufen lassen. Offenbar hatte ich sie davon überzeugt, denn sie lächelte freundlich und reichte mir ihre Hand. „Dann können wir uns die Hand geben. Bei mir ist es ähnlich, ich bin quasi auch in der selben Branche tätig und mich erkennen auch nicht viele Leute. Ich bin übrigens Stefanie. Hannah Clifford.“ Ich schüttelte ihre Hand und verriet ihr auch meinen Namen und wir verbrachten den Nachmittag mit einem ausführlichen Spaziergang am Strand entlang. Am Abend begleitete ich sie zu ihrem Auto und sie versprach mir eine exklusive Stadtführung für den nächsten Tag, was ich dankend annahm. Zurück auf meinem Hotelzimmer erwachte ich schließlich aus meiner rosaroten Traumwelt und fragte mich, wie dumm ich eigentlich sein konnte. „Schauspieler? Hat sie dir geglaubt, aber wenn sie sich deinen Namen gemerkt hat und ihn in die bekannten Suchmaschinen im Netz eintippt, dann erscheinen wohl ein paar Artikel über mich.
Natürlich überprüfte ich meine Befürchtungen und sie stellten sich als begründet heraus. Ich gab meinen Namen in die Suchmaschine ein und bekam meinen Eintrag direkt zu lesen. „ist ein deutscher Fußballspieler.“
Geburtsdatum, Alter, Werdegang und diverse Artikel der Europameisterschaft waren auch in den USA verfügbar und ich machte mir wenig Hoffnungen, dass sie am nächsten Morgen auftauchen würde. Frauen wie sie hatten in 2 Sekunden raus gefunden, mit wem sie ausgehen, dessen war ich mir sicher. Ich drehte also den Spieß um, um noch einen letzten Blick auf die Frau zu werfen, die ich über meinen Beruf belogen hatte, doch der Name „Hannah Clifford“ spuckte nur ein paar Ergebnisse aus und sie war auf keinem der Bilder, die mir die Suchmaschine anzeigte und plötzlich tat sie mir auch noch wahnsinnig leid. Vermutlich war sie in die Stadt gezogen, um ihre Schauspielkarriere voranzutreiben, doch hatte sie offenbar noch keinen Erfolg damit oder auch nur die kleinste Erwähnung im Netz über sich.
Während ich darüber nachdachte, bekam ich eine Mail und las den Absender. Mein Verein hatte mir den Sommerfahrplan mitgeteilt und mein Magen verkrampfte sich noch mehr. Wenn Hannah meinen Namen nicht im Netz eingeben würde, dann würde ich sie durch diesen Satz in der Mail mit Sicherheit verlieren. „Zum Auftakt steht eine USA-Reise an, beginnend in Los Angeles mit einem Testspiel nach 5 Tagen Aufenthalt gegen ein All-Star-Team der heimischen Liga. Um unsere Expansion in den USA weiter voranzutreiben, erwarten wir von dir nichts anderes als einen Sieg und daher werden wir auch mit der bestmöglichen Aufstellung in die Partie gehen. Zu deiner Information: Das Stadion ist mit 125.000 Zuschauern bereits restlos ausverkauft. Wir sind bereits in Kenntnis darüber, dass du dich bereits vor Ort befindest, deshalb solltest du dich übermorgen am Teamhotel einfinden. Eigentlich wollten wir dir diese Reise nach der EM noch ersparen, aber wir glauben, dass dich dieses Spiel auf andere Gedanken bringen wird, daher haben wir beschlossen, dass du dabei sein wirst.“
Fest entschlossen, dass Hannah mich am nächsten Tag ziemlich sicher versetzen würde, wenn sie die Wahrheit über mich herausgefunden hatte, verließ ich mein Hotel und fühlte mich noch schlechter als vor der Begegnung mit ihr, doch sie stand bereits vor dem Eingang und lächelte mich freundlich an. Sie hatte den Abend wohl damit verbracht, einige Jobangebote durchzugehen und ich gratulierte ihr und freute mich für sie. Hannah und ich verbrachten den ganzen Tag zusammen und sie führte mich an die berühmten Ecken der Stadt und ich konnte kurzzeitig meine Sorgen vergessen, doch als sie sich vor dem Hotel von mir verabschiedete, fühlte ich mich wieder sehr schlecht, denn sie hielt mir stolz ein Ticket entgegen. „Mein bester Freund hat mir das besorgt, er ist total der Soccer-Fan und ich gehe zum ersten Mal in meinem Leben zu so einem Spiel. Schaust du dir das Spiel auch an?“ Ich hasste es, sie weiter zu belügen, doch ich brachte es einfach nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Wie auch? Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich ebenfalls im Stadion war und sogar mitspielen würde? Dass ich sie von Anfang an belogen hatte? Nein, das konnte ich ihr nicht antun, also schüttelte ich den Kopf. „Leider nicht, ich fliege morgen zurück nach Hause.“ Hannah sah mich sehr traurig an, doch sie wollte noch Nummern austauschen, um mit mir in Verbindung bleiben zu können und so verabschiedeten wir uns schließlich.
„Du musst es ihr sagen, Mario. Besser so, als wenn sie dich heute Abend auf dem Feld sieht.“ Knapp eine Woche war vergangen und meine Mitspieler redeten quasi von nichts anderem mehr. Selbst die kleinen Sticheleien der frisch gekürten Europameister gegen mich waren schnell vorbei, als ich den Jungs von meiner Begegnung mit Hannah erzählte. Ich schrieb quasi jeden Abend mit ihr, um ihr die Zeitverschiebung nach Europa vorzugaukeln. Mein Mitspieler Chris ermutigte mich mehrmals täglich, sie einfach anzurufen oder ihr zumindest eine Nachricht zu schicken, doch ich konnte nicht.
Es tat mir weh, doch sie war einfach ein herzensguter Mensch und als ich nach dem Aufwärmen im Stadion ein letztes Mal die Chance hatte, mit ihr zu schreiben, schickte sie mir ein Foto von sich im Trikot. Natürlich im weißen Trikot und selbstverständlich auch mit meinem Namen auf ihrem Trikot.
Ich: „Kennst du denn die Spieler?“
Hannah: „Nein, aber das wird sich ändern. Der Stau war unfassbar, wir sind gerade erst im Stadion angekommen. Ich wünschte, du wärst hier bei mir, ich vermisse dich.“
Ich: „Ich vermisse dich auch, Hannah. Ich habe gleich einen Dreh für die nächste Staffel meiner Serie, ich wünsche dir viel Spaß beim Spiel.“
Sie: „Danke, dir auch viel Spaß und bis morgen.“
Ich starrte mein Handy an und am Liebsten hätte ich es gegen die nächste Wand geworfen, doch nicht mal das brachte ich fertig.
„Komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Wenn ihr bester Freund wirklich so n großer Fan ist, wie sie sagt, dann wird er es ihr schon klar machen, warum du es ihr nicht gesagt hast. Und jetzt komm, wir haben ein Spiel zu gewinnen. Lass uns deine Süße mal etwas beeindrucken. Vielleicht ist sie ja gnädiger mit dir, wenn du n verdammt gutes Spiel ablieferst.“ Chris gab mir die Hand und zog mich von der Bank hoch. „Ich hoffe es.“ flüsterte ich niedergeschlagen und trottete hinter ihm her. Ich stellte mich wie gewohnt ganz nach vorne, gab ein paar Gegenspielern, die ich noch gut kannte, die Hand und erfüllte noch den ein oder anderen Selfie-Wunsch der Einlaufkinder, bevor der Stadionsprecher die Menge ein letztes Mal anheizen konnte. Ich atmete tief durch und schon ging es nach dem Schiedsrichter-Team in das vollbesetzte Stadion, doch ich war noch nie so nervös wie vor diesem Spiel.

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mia669
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7 Minuten vor

Gefällt mir gut, hoffentlich kommt da schnell der zweite Teil

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